Es ist möglich, sich der Vereinbarkeit zu widersetzen. Romy Richter erklärt, warum das wichtig ist.
Autorin: Romy Richter
„Nein, meine Söhne geb ich nicht!“ hieß es einst in einem Lied von Reinhard Mey. Er hat dagegen aufbegehrt, seine Söhne dem Militär zu opfern. Unsere Kinder heute brauchen ähnlichen Schutz: Schutz vor einer geraubten Kindheit. Diese soll nämlich u.a. unserem demografischen Problem des Fachkräftemangels zum Opfer fallen. Und nicht nur die Kinder sollen dafür in die Bresche springen, nein, auch deren Eltern. Am besten beide Elternteile und am liebsten in Vollzeit.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf war DAS Schlagwort der Familienpolitik in den letzten Jahren. Dementsprechend wurden die Weichen gestellt: Kitas ausgebaut und neugebaut. Den Eltern weiß gemacht, dass die Fachkräfte in den Ganztageseinrichtungen das bessere, weil qualifiziertere Gegenüber für ihre Schützlinge sind. Pustekuchen. Hochengagierte Krippenerzieher werfen das Handtuch. Können und wollen nicht mehr: „Bei einer Gruppengröße von 12- 14 ein- bis zweijährigen Kindern haben wir uns zu zweit durch den Tag gekämpft“, schreibt uns eine Erzieherin. „Der Versuch, die Bedürfnisse jedes Kindes zu bemerken und auch noch zu erfüllen, hat uns angetrieben, aber täglich frustriert und erschöpft nach Hause gehen lassen. Haben Sie schon mal 12 Kinder in diesem Alter innerhalb von 20 Minuten mit Mittagessen versorgt? Dann allen gleichzeitig die verschmierten Hände und Gesichter gewaschen und sie mit frischen Windeln für den Mittagsschlaf ausgestattet? Der Wunsch, die Kinder geduldig, liebevoll, selbständigkeitsfördernd und wertschätzend durch den Tag zu begleiten ist Maxime in der Krippe, in der Realität aber schlichtweg Utopie.“ Kleine Kinder, deren natürliche Bedürfnisse es normalerweise nötig machen, dass ein einzelner Erwachsener sich um sie kümmert, werden nun flächendeckend in Gruppen von wechselndem Personal betreut. Mal ehrlich: damit sind alle Beteiligten überfordert: die Fachkräfte zerreißen sich förmlich, die Eltern fahren mit einem schlechten Gewissen zur Arbeit und die Kinder ertragen mehr oder weniger tapfer die Lautstärke, das Gewusel und das tägliche Verlassenwerden.
„Wenn die Kitas so mangelhaft sind, wie wir es derzeit erleben, bedeutet das viel Stress für alle Beteiligten. Mein Eindruck ist: die Dimension des Themas kommt gesellschaftlich nicht an“, meint Stefan Morgenstern, Personalleiter MTU Aero Engines AG in einem jüngst veröffentlichten Artikel der Zeit online. Die permanente Dauerbelastung überfordert das kindliche Immunsystem derart, dass Eltern heutzutage schon vor (!) der Eingewöhnung mit langen Ausfallzeiten wegen kranker Kinder rechnen! Und sie selbst sind ebenfalls erschöpft: erschöpft vom ersten anstrengenden Babyjahr, in dem sich viele Gedanken und Pläne notwendigerweise um den bevorstehenden Wiedereinstieg ins Berufsleben drehen. Von einer heimeligen Elternzeit keine Spur. Was an gemeinsamer Erinnerung bei vielen Paaren hängenbleibt, sind die unruhigen Nächte, das Geschrei nach Aufmerksamkeit und Beschäftigung, ein Rund-um-die-Uhr-da-sein-müssen und die panische Vorstellung davon, wie das alles funktionieren soll, wenn Mama wieder arbeiten geht.
Urlaube und Resturlaubstage werden zusammengekratzt, um die Elternzeit möglichst zu verlängern bzw. die Eingewöhnungszeit in der Kita begleiten zu können. Alles wird genau geplant und durchgerechnet, nichts darf dem Zufall überlassen werden, schließlich ist man auf den Kita- Platz angewiesen. Die Hoffnung: wenn das Kind einmal dort ist, ist der gewohnte Berufsalltag zurückgewonnen und alles geht seinen geregelten Gang. Denkste. Dann geht der Stress erst richtig los- vor allem der emotionale: beim Abgeben frühmorgens, beim Bangen am Vormittag, ob ein Anruf aus der Kita kommt, beim pünktlichen Schlussmachen nachmittags und hektischen Aufbruch zum Abholen. Dann das Geschrei, weil der Nachwuchs nicht nach Hause will.
Dort warten aber Hausarbeit, Einkauf und sonstige Erledigungen und Termine. Vielleicht noch Geschwisterkinder, die Hausaufgaben und Freunde mitbringen. Der Partner kommt spät, weil er Kinderkrankheitsausfälle von Kollegen rausarbeiten muss. Augen zu und durch. Denn wenn scheinbar alle es schaffen, zu vereinbaren, dann muss es doch irgendwie gehen, oder? Also noch mehr optimieren, noch besser terminieren und die Ansprüche an die Paarbeziehung und die „Me- Time“ hintenanstellen. Zum Glück gibt es Mutter- Kind- Kuren, um in regelmäßigen Abständen alle wieder fit zu kriegen für den ganz normalen Alltagswahnsinn!
Schaut in die genervten, ausgebrannten Gesichter derer, die versuchen es allen recht zu machen und darüber verzweifeln, dass es nie genug ist, was sie tun: die Kinder geraten nicht, machen Probleme in der Schule, streiten bei jeder Kleinigkeit und buhlen um die Aufmerksamkeit von Mutti. Sie brüllt in ihrer Verzweiflung, verhängt überzogene Strafen oder beschafft Geschenke zum Trost. Beim Thema Schule läuft sie Gefahr, den Leistungsdruck, der dort aufgebaut wird, auch zuhause auszuüben- aus Angst, dass aus dem Kind nichts Gescheites wird (weil alle das sagen!). Auf die Erzieher wird ebenfalls geschimpft: sie kümmern sich nicht genug um das einzelne Kind, vernachlässigen das Schereschneiden-üben und meckern permanent sowohl mit den Kindern als auch den Eltern. Was ihnen vorgeworfen wird, hält man natürlich auch den Eltern vor! Dabei versucht jeder nur, allen Rollen irgendwie gerecht zu werden. Zum Dank wird unbarmherzig abgerechnet: die Rabenmütter kümmern sich zu wenig um ihre Brut, weil sie einem Vollzeitjob nachgehen. Die Helikoptermütter kreiseln nur um den Nachwuchs, um zu kompensieren, was sie bisher am Kind nicht verwirklichen konnten. Und die Vollzeitmütter? Die haben keine Lust zu arbeiten, ruhen sich auf dem Einkommen ihrer gutverdienenden Ehemänner aus und glänzen mit ihren Vorzeigekindern. Wie du es anpackst, wird es verkehrt sein!
Wo sind die Leuchttürme für Eltern? Die Oasen zum Auftanken, Innehalten und erkennen können, was wirklich wichtig ist- und wann? Denn alles hat seine Zeit! Wer unterstützt Eltern dabei, eine hingebungsvolle Elternschaft zu leben UND Teil des Arbeitsmarktes zu sein? Einen individuellen Weg zu gehen, auf dem möglichst keiner zu kurz kommt? Wer spricht über die große Verantwortung, die Erwachsene Kindern gegenüber haben? Über die tatsächlichen Bedürfnisse der Jüngsten, die befriedigt werden wollen, damit sie schließlich gern mit uns Erwachsenen kooperieren, uns nacheifern und an unserem guten Vorbild lernen? Wer weist auf die Folgen hin, die es haben wird, wenn wir weiterhin Raubbau an ihrer Kindheit betreiben? Können unter diesen Umständen überhaupt belastbare Fachkräfte für morgen heranwachsen? Man erntet, was man sät, heißt es auch. Eltern sind die gesetzlichen Vertreter der Interessen und Bedürfnisse ihrer Kinder. Es ist ihr natürlicher Auftrag, deren schöpfungsgemäßes Potenzial zu sehen, zu fördern, zu schützen und notfalls gegen den Mainstream zu verteidigen. Denn Kinder sind darauf angewiesen, dass Entscheidungen, die ihre Eltern treffen, vordergründig ihrem persönlichem Wohl dienen und nicht wirtschaftlichen Interessen.
Der Ton wird rauer unter Kindern und Jugendlichen, kriminelle Ausfälle erschrecken uns. Fehlt die familiäre Basis eben doch? Der sichere Rückzugsraum, in dem Kinder wahrgenommen werden und über Probleme sprechen können und Unterstützung erhalten? Früher haben wir uns über das Krippensystem in der DDR aufgeregt und gemeint, das könne den Kindern nicht guttun, heute praktizieren wir es selbst, um den Arbeitsmarkt zu befriedigen. Der Staat betreibt eine manipulative Politik, indem er nicht durch ein Erziehungsgehalt alle Eltern subventioniert, ihnen somit die Entscheidung, wie sie ihre Kinder aufwachsen lassen wollen, obliegt, sondern indem nur die Krippen subventioniert werden, damit ein Heer an Arbeitskräften zur Verfügung steht. Eltern, die ihre Kinder im familiären Umfeld aufwachsen lassen wollen, die sie selbst prägen und…